In seiner vierten Sitzung ließ sich der zweite NSU-Untersuchungsausschuss im Stuttgarter Landtag von zwei Sachverständigen die Entwicklung rechtsextremer und rechtsterroristischer Strukturen und der Neonazi-Musikszene erläutern. Dabei standen immer wieder die Bezüge bundesweiter Organisationen und bedeutender Projekte nach Baden-Württemberg und die Suche nach möglichen UnterstützerInnen des NSU-Kerntrios im Vordergrund. In einer Vernehmung eines ehemaligen Islamisten und in einer nichtöffentlichen Vernehmung einer BND-Vertreterin thematisierte der Ausschuss außerdem nochmals die Frage nach einer möglichen Anwesenheit US-amerikanischer (Geheim-) Dienste beim Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn bzw. einen durch einen „Stern“-Artikel nahegelegten Zusammenhang zwischen der Tat und der islamistischen „Sauerland-Gruppe“.
Der Düsseldorfer Professor Fabian Virchow ging zunächst auf die Geschichte des Rechtsterrorismus ein und führte aus, was er unter Rechtsterrorismus versteht. Dazu nannte Virchow fünf Kriterien: Erstens handle es sich um geplantes und nicht situatives Handeln. Zweitens sei dieses auf Kontinuität angelegt und drittens klandestin oder halbgeheim organisiert. Viertens hätte das Handeln zum Ziel, Angst und Einschüchterung bei größerer Anzahl Menschen hervorzurufen oder die Gesellschaftspolitik zu beeinflussen. Fünftens gehe es den TäterInnen dabei nicht um persönliche Bereicherung. Virchow nannte als Beispiel für einen „Grenzfall“ Kay Diesner, der 1997 in Berlin einen Buchhändler anschoss und bei Flucht einen Polizisten erschoss.
Virchow ging dann auf „Vorläufer“ des NSU ein. Vom Beginn rechtsterroristischer Aktivitäten sei ab den späten 1960er bzw. frühen 1970er Jahren zu sprechen. Es seien kleinere Organisationen und Grüppchen entstanden, deren Mitglieder sich Waffen beschafft und Depots angelegt hätten. Die Gruppen hätten schwere Verbrechen vorbereitet und Planungen entworfen, von denen nur kleiner Teil realisiert worden sei. Virchow nannte als Beispiele u.a. die „Europäische Befreiungsfront“, den Neonazi Ekkehard Weil, die „Gruppe Hengst“, die „Nationale Deutsche Befreiungsbewegung“ oder die „NS Kampfgruppe Großdeutschland“.
Für die 1980er Jahre führte Virchow die „Deutschen Aktionsgruppen“ um Manfred Roeder und die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ an. In den 1990er und 2000er habe sich die Entwicklung fortgesetzt.
Für die BRD sei festzustellen, dass diese Gruppierungen kleine Zellen oder „lone actors“ gewesen seien. Virchow verwies auf entsprechende Veröffentlichungen wie die „Winke für Jagdeinheiten“, die u.a. von der NPD vertrieben worden seien und auf eine fortlaufende Zahl von Schriften auf deutsch (bzw. aus dem Englischen übersetzt) ab den frühen 1990er Jahren, in denen Terrorismus zum Beispiel als „Notwehrmaßnahme“ gerechtfertigt worden sei. U.a. nannte Virchow die Schrift „Eine Bewegung in Waffen“. Virchow verwies auch auf den Import von US-Schriften und nannte das „White Resistance Manual“ als Beispiel für das Konzept des führerlosen Widerstands. Später seien die Konzepte auch aus der „Blood & Honour“ (B&H)-Bewegung gekommen und hätten sich in Romanen wie „Turner Diaries“, „Hunter“ oder „The Uprising“ niedergeschlagen.
Als zentrale Motive der rechtsterroristischen Akteure führte Virchow das Ziel eines Großdeutschlands, einen aggressiven Antikommunismus und die Verhinderung der NS- und Holocaustaufklärung an. Auch die Idee einer rassisch und völkisch reinen Nation, die es zu verteidigen gelte, habe eine Rolle gespielt. Ziel sei teilweise auch die Veränderung der Asylpolitik gewesen, dabei sei der Rechtsterrorismus immer mit dem „Notwehr“-Gedanken und einem Befreiungsdiskurs verbunden gewesen.
Als Gewaltformen des Rechtsterrorismus in der BRD nannte Virchow Bombenanschläge, bewaffnete Überfälle und Planungen von Entführungen (z.B von Simon Wiesenthal). Die
Lebensdauer der Gruppierungen sei in der Regel kurz gewesen (zwei oder drei Jahre), auch aufgrund des Verfolgungsdrucks durch die Behörden. Der NSU sei hier eine Ausnahme.
Virchow ging auch auf aktuelle Ausprägungen ein. Ab 2013 und 2014 sei ein Anstieg rechter Gewalt im Zusammenhang mit Flüchtlingen zu beobachten, vermehrt auch rechtsterroristische Strukturen. Virchow nannte die „Oldschool Society“ (OSS), die „Gruppe Freital“ und ein Ermittlungsverfahren in Bamberg. Dabei würden sich die Gruppen nicht mehr aus dem klassischen neonazistischen Spektrum rekrutieren, sondern aus einem deutlich erweiterten Personenkreis u.a. aus Parteien und aus Pegida-Akteuren.
Zu einem möglichen Zusammenhang des „Tatorts Theresienwiese“ in München (Oktoberfestattentat) und in Heilbronn (Mord an Michèle Kiesewetter) erklärte Virchow, diese mögliche Parallele aufgrund des Ortes sei Spekulation, es gebe keine Hinweise darauf. Schon die Tatausführung sei sehr unterschiedlich, unmittelbare Parallelen seien nicht gegeben. Bezüglich der polizeilichen Ermittlungen könne man der Polizei im Heilbronner Fall eine hohe Motivation unterstellen, da eine Polizistin getötet worden sei. Zu den Münchner Ermittlungen erwähnte Virchow die frühe Festlegung auf die „Einzeltäterthese“ und die Kritik an den Ermittlungen.
Zur Veränderung der rechtsextremen Szene in den 1990er Jahren bemerkte Virchow, deren Diskussionen seien durch einen „historischen Optimismus“ gekennzeichnet gewesen aufgrund der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und des Zerfalls der Sowjetunion. Die Szene habe dies teilweise als Durchsetzung der völkischen Idee interpretiert. Entsprechend habe es eine Gewalteskalation gegen Asylsuchende gegeben. Diese Erfahrungen würden auch weitergegeben an die nächste Generation von Rechtsextremisten und der Anteil Gewaltbereiter an der Gesamtzahl Rechtsextremer sei immer größer geworden. Dies habe sich auch im Parteienspektrum niedergeschlagen: die radikalere NPD habe sich gegenüber den „Republikanern“ (REP) durchgesetzt. Auch zahlenmäßig sei es zu einer Zunahme gekommen. Virchow erläuterte die Wiederaneignung von Aktionsformen wie z.B. Demonstrationen, die seit den späten 1990er Jahren wieder zum Repertoire dieser Szene gehört hätten.
Als Reaktion auf die Organisationsverbote in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sei es in einer bestimmten Phase auch aus „taktischer Flexibilität“ zur Organisierung in Kameradschaften gekommen. Inzwischen sei wieder eine Rückkehr in klassische Parteiformationen zu beobachten. Zu den Doppelmitgliedschaften von Rechtsextremisten in verschiedenen Organisationen und Gruppen erläuterte Virchow, dies sei kein neues Phänomen. Er verwies u.a. auf Doppel-Mitgliedschaften bei der NPD und bei den antisemitischen „Ludendorffern“ oder in der „Artgemeinschaft“.
Pogrome wie bspw. in Hoyerswerda seien durchweg positiv in der Szene aufgenommen und als Aufwachen der Bevölkerung gewertet worden. Die Szene habe sich selbst als Handelnder im Sinne der schweigenden Mehrheit bzw. als „Vorhut“ verstanden. Von dieser Erfahrung habe die Szene lange gezehrt und das habe ihr Selbstbewusstsein gegeben. Virchow verwies auf die Thüringer NSU-Kerngruppe und deren Selbstbewusstsein. Z.B. habe sich die Gruppe mit der Polizei angelegt.
Der Rechtsterrorismus sei ohne das Umfeld der extremen Rechten gar nicht denkbar und erklärbar, sagte Virchow weiter. Am NSU könne man exemplarisch nachvollziehen, wie die Szene Weltanschauung und Infrastruktur (Waffen, Papiere etc.) zur Verfügung gestellt habe. Ohne Einbettung der Akteure in diese Szene seien die Taten nicht denkbar.
Zu fehlenden Bekennerschreiben erwähnte Virchow Schriften der Szene, die aus taktischen Gründen von der Verbreitung von Bekennerschreiben abraten, um die polizeilichen Ermittlungen zu erschweren. Im Bezug auf den NSU habe es solcher Bekennerschreiben nicht bedurft, die Botschaft sei in den migrantischen Communities und in der Szene der extremen Rechten angekommen. Es sei aber nicht in der Mehrheitsgesellschaft angekommen, die habe es nicht wahrgenommen.
Die Akteure des Rechtsterrorismus seien in der Regel aus der rechtsextremen Szene gekommen, führte Virchow weiter aus. In den letzten 3-4 Jahren seien neue Erscheinungsformen zu beobachten. Virchow nannte als Stichwort das Phänomen Pegida und vergleichbare Gruppen an vielen Orten und erklärte, um diese Akteure sammle sich ein bestimmtes Milieu und werde handlungsfähig. Damit verändere sich auch das Bedrohungspotential.
Als Schlussfolgerungen für politisches Handeln führte Virchow Lehrangebote für zukünftige SozialarbeiterInnen, den Bereich der politischen Bildung und die Frage, wie über Asyl- bzw. Migrationsfragen in der Politik diskutiert werde, an. Eine Zuwanderungsgesellschaft erfordere Einsichten, was die Repräsentanz von Zugewanderten in allen gesellschaftlichen Bereichen angeht und auch die Bereitschaft, ernsthaft über Probleme und Konflikte durch die Einwanderung zu sprechen.
Auf die Nachfrage, ob also eher Sozialarbeit dem Verfassungsschutz vorzuziehen sei, entgegnete Virchow, dabei komme es auf die konkrete Situation im Einzelfall an. Zu Pegida und anderen Phänomenen wie den Reichsbürgern erläuterte Virchow, dort sei eine zunehmende Anzahl von kaum erreichbaren Menschen mit hermetisch abgeriegeltem Weltbild zu beobachten. Er sprach auch vom sektenähnlichen Charakter einiger Gruppen, der sozialarbeiterischen Maßnahmen auch Grenzen setze.
Bezüglich des NPD-Verbotsverfahrens sagte Virchow, dieses werde innerhalb der Partei so diskutiert, „dass die tatsächlich davon ausgehen, dass es nicht kommt“. Es gebe aber Abwanderungsbewegungen z.B. zu „Die Rechte“ oder „Der Dritte Weg“, die allerdings anders motiviert seien: die NPD gelte vielen nicht mehr als handlungsfähig bzw. nicht mehr radikal oder nationalsozialistisch genug.
Virchow nannte eine von der Innenministerkonferenz beschlossene Studie aus den späten 1970er Jahren mit einem Kapitel zu den damaligen Rechtsterroristen, wonach diese oft aus gesellschaftlich abgehängten Milieus stammten. Diese Studie sei aber auf die Gegenwart nicht übertragbar, man müsste diese Feld vielmehr genauer erforschen. Ein bestimmtes sozialstrukturelles Milieu sehe er nicht, aber ein bestimmtes politisches Milieu. Das zeichne sich durch Gewaltaffinität und den Hang zu Waffen aus und ein „Vortasten wie weit kann ich gehen bis ich Ärger kriege mit dem Staat“.
Zur Veränderung bei der Opferauswahl des NSU im Fall der getöteten Polizistin Kiesewetter sagte Virchow, er sei sich nicht sicher, ob er die These, dass es dabei um Waffenbeschaffung ginge, für plausibel halte. Er habe selbst aber auch keine überzeugende Antwort, warum es zur neuen Opferwahl kam. Thesen, ob der NSU durch den Kiesewetter-Mord an Rückhalt in der Szene verlor und es deshalb zu einer Absetzbewegung gekommen sein könnte, kommentierte Virchow mit Bedenken. Das sei Spekulation. Virchow verwies auf die zunehmende Gewalt gegen Polizisten durch die rechtsextreme Szene.
Der NSU habe sich zeugungsfähige Opfer ausgewählt, die sich eine Existenz in der BRD aufgebaut hatten, erklärte der Sachverständige weiter. Deshalb mussten nach Virchow gerade diese Menschen sterben, es gebe da ein planerisches Vorgehen und historische Vorbilder. Ob es eine Inspiration durch die Taten von David Copeland gegeben habe, sei Spekulation, aber insgesamt seien solche Taten in der Szene diskutiert worden.
Zur Frage nach der Sicherheitsarchitektur äußerte Virchow, er sei kein Spezialist für diesen Bereich, aber er hoffe, und manches spreche dafür, dass Lehren aus dem NSU gezogen wurden. Virchow verwies auf die Anklagen der Bundesanwaltschaft gegen diverse rechtsextreme Vereinigungen. Er habe aber auch gewisse Zweifel u.a. bezüglich der Frage der V-Leute. Virchow äußerte Zweifel, ob die Nachrichtendienste die Selbstbezeichnung als Frühwarnsysteme verdienen und verwies als Beispiel auf die Reichsbürger. Erst jetzt würden sich die Nachrichtendienste dem Thema widmen, zivilgesellschaftliche Initiativen würden sich seit Jahren damit beschäftigen.
Bezüglich weiterer Konsequenzen führte Virchow verschiedene Bereiche an, in denen Handlungsbedarf bestehe, z.B. müsse „der Wert unserer Demokratie neu begründet“ werden, so dass es sich lohne, dafür einzutreten. Junge Menschen müssten außerdem die Erfahrung der Selbstwirksamkeit in demokratischen Kontexten wie z.B. in den Schulen machen.
Virchow stellte auch die verschiedenen europäischen Bewegungen und ihre Verbindungen dar, bspw. im Europaparlament. Auch im Bereich des Rechtsterrorismus gebe es solche internationalen Verbindungen.
Zum NSU-Unterstützerkreis äußerte Virchow u.a., ein Abtauchen in den Untergrund aufgrund einer bewussten Entscheidung sehe anders aus als man das beim NSU gesehen habe. Man brauche Infrastruktur, Geld, Ausweispapiere etc., es habe eine Szene von Akteuren gegeben, die sich über viele Jahre kannten und sich über (illegale) politische Aktionen vertrauten. In diesen Kreisen habe man gesagt „ich brauch mal deine Krankenkassenkarte“ usw., ob das jeweils in Wissen um die Straftaten erfolgt sei, sei auch nicht mit Sicherheit zu sagen. „Das wird vielleicht bei bestimmten Leuten der Fall gewesen sein, bei anderen nicht“. Es gebe dabei sicherlich verschiedene Modelle und gut und gerne „100+“ Personen, die Unterstützungsleistungen angeboten oder gemacht haben. Manche nur für einen bestimmten Zeitraum, manche seien später hinzugekommen. Über die spätere NSU-Phase wisse man relativ wenig, evtl. habe es weitere Wohnungen gegeben, da sei noch viel unbeantwortet.
Virchow machte deutlich, dass er die Rolle des Verfassungsschutzes im Fall NSU sehr kritisch sehe. Die Nachrichtendienste hätten teilweise zum Schutz der V-Leute die Aufklärung der Verbrechen behindert, aber er würde nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht so weit gehen, zu sagen, die Geheimdienste hätten die Gruppe aufgebaut und gesteuert. Es sei sicher nicht ihr Ziel gewesen, eine terroristische Struktur aufzubauen. Ob Kenntnisse über diese Struktur vorlagen und wss damit gemacht worden sei, sei allerdings eine andere Frage. Da gebe es viele Möglichkeiten.
Zur Frage, ob Leute in der NSU-Kerngruppe unterschiedliche Rollen eingenommen hätten, äußerte Virchow, die Art und Weise, wie Strukturen sich organisierten, seien immer komplexer geworden und hätten immer mehr Unterstützerleistungen gefordert. Die NSU-Mitglieder seien für das persönliche Umfeld wie bspw. die Nachbarn „normale Leute“ und nicht sichtbar gewesen, sicherlich auch aufgrund einer familienähnlichen Struktur mit Urlaubsfahrten, Besuchen usw. Zu unterschiedliche Rollen oder Arbeitsteilungen innerhalb der Gruppe könne er aber nichts sagen. Die Stärke des NSU sei es gewesen, dass es einen Kreis von UnterstützerInnen gegeben habe, auf die sie sich verlassen konnten, auch in schwierigen Situationen. Eine andere Stärke sei gewesen, dass sie von dem was sie machten sehr überzeugt waren und die Morde auf eine Art vollzogen haben, die als professionell angesehen wurde. Ob es Schwächen gab, könne er nicht sagen.
Zur Kommunikation solcher Gruppen hob Virchow die verschlüsselte Kommunikation und die zentrale Rolle des Internets hervor und verwies u.a. auf die „Weisse Wölfe Terrorcrew“ (WWT), bei der Ermittlungsbehörden Schwierigkeiten gehabt hätten, an die Kommunikation zu kommen. Zu Aussteigerprogrammen sagte Virchow, er habe keinen Gesamtüberblick.
Die Gruppierung sei vor dem Untertauchen wie auch die ganze Szene sehr reisefreudig gewesen. Virchow verwies auf den Hess-Marsch in Worms, aber auch auf Konzerte und private Feierlichkeiten – da müsse man sich einzelne Ereignisse anschauen.
Zur Frage, wie Unterstützer zu suchen seien, ob eher über persönliche Kontakte des „Trios“ bis 1998 oder über politische Strukturen, sagte Virchow, der private Aspekt habe eine Rolle gespielt, sei aber häufig politisch beeinflusst gewesen. Von daher sei dies nicht strikt zu trennen. Virchow erwähnte Blood & Honour und die Hammerskins. Diese Art von Netzwerken seien eher die Bereiche, in denen weitere Erforschung und Hingucken sich lohne.
Abschließend sagte Virchow, die Frage sei, wie die Gesellschaft damit umgehe. Virchow sprach von primärer, sekundärer und tertiärer Viktimisierung. Hier sei die sekundäre Viktimisierung wichtig, weil das Verhalten der Strafverfolgungsbehörden, der Medien und des sozialen Umfelds darüber entscheide, ob die primäre Viktimisierung verstärkt und stabilisiert werde. Man müsse deshalb zivilgesellschaftlich stark auf das Erinnern an rechte Gewalt schauen und wie man den Betroffenen zeige, dass man erkenne, dass sie die Opfer waren. Das sei eine ganz wichtige Aufgabe.
Als nächster Sachverständiger war der Diplom-Sozialpädagoge Jan Raabe geladen. Er legte zunächst die Bedeutung der Neonazi-Musik für die rechtsextreme Szene und ihre Netzwerke dar. Raabe erwähnte Blood & Honour als zentrale Struktur der Szene und die Nähe des Kerntrios zu B&H. Gerade die sächsische B&H-Sektion habe eine zentrale Rolle bei der Unterstützung gespielt. Eine jugendkulturelle Szene mit der Dimension einer Bewegung habe sich in den 1990er Jahren herausgebildet. 100 bis 150 professionell produzierte Tonträger würden pro Jahr (neu) produziert werden. Für Baden-Württemberg stellte Raabe die Zahlen des Landesverfassungsschutzes dar. 2006 sei mit 19 Bands die Spitze erreicht worden, aktuell sei die zurückgehende Zahl zwar erfreulich, aber auf der anderen Seite befinde sich das Gesamtpotenzial aber auf einem hohen Niveau.
Raabe zeigte dann baden-württembergische Musik-Projekte, darunter „Tonstörung“, „Noie Werte“, „Propaganda“, „Ultima Ratio“, „Kommando Skin“, „Race War“, „Blue Max“ und den Liedermacher Frank Rennicke. Insgesamt seien 85 Bands aus Baden-Württemberg seit 1989 aktiv gewesen. Raabe führte dann zu „Noie Werte“ aus, diese seien 1987 gegründet und 2010 aufgelöst worden. Steffen Hammer sei als Anwalt tätig und Bandleader gewesen, es habe eine Reihe von Personalwechseln gegeben. Mitglieder von „Noie Werte“ hätten später auch in anderen Bands gespielt. Insgesamt habe es 10 Tonträger und über 70 Konzerte gegeben, auch international. „Noie Werte“ seien „eine der wirklich wichtigen Bands des bundesdeutschen Spektrums“ gewesen, v.a. durch ihre „musikalische Qualität“. Raabe erläuterte dann die Stuttgarter Band „Ultima Ratio“, die 1997 bis ca. 2007 um den Sänger und Rechtsanwalt Alexander Heinig existiert habe. Die Band habe ca. 30 Konzerte gespielt, davon 10 im Ausland. „Ultima Ratio“ komme besondere Bedeutung in der Szene zu. Raabe verwies auf die Untergrundband und kriminelle Vereinigung „Landser“, die 1998 mit „Ultima Ratio“ auftrat und auf die weitreichenden bundesweiten und internationalen Kontakte von „Ultima Ratio“. Raabe erläuterte auch die Band „Propaganda“ aus Horb mit 55 Konzerten und „Kommando Skin“ mit 50 Konzerten, davon 22 im Ausland. „Race War“ aus Schwäbisch Gmünd um Max H. hätten immer wieder zu Gewalttaten aufgefordert und Mitglieder seien deshalb 2006 in einem Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden. Unter dem Namen „Heiliger Krieg“ sei die Band allerdings bis heute aktiv. „Race War“ habe zudem eine sehr enge Einbindung in B&H-Netz gehabt und Bekenntnisse zu Combat 18 geäußert. Raabe erwähnte das Lied „Furchtlos und Treu“, das ein Bekenntnis zu Adolf Hitler darstelle. Er verwies auch auf die ehemalige Freundin des „Race War“-Musikers Max H., deren Nachname P. möglicherweise als Alias des NSU-Kerntrios verwendet worden sei. Dann stellte Raabe Frank Rennicke als Liedermacher dar, der inzwischen über 20 Tonträger veröffentlicht und 450 Auftritte absolviert habe. Rennicke sei beliebt sowohl bei Altnazis, als auch bei jüngeren Neonazis. Er sei mit seinen Auftritten bis nach Moskau gekommen und sei NPD-Bundespräsidentenkandidat in den Jahren 2009 und 2010 gewesen. Raabe erwähnte Bezüge des Rechtsterroristen Peter Naumann zu Rennicke aus dem Jahr 1995. Naumann habe den Behörden 13 Waffendepots u.a. mit TNT übergeben, unter den Kameraden, die Naumann dabei begleitet hätten, hätte sich auch Rennicke befunden.
Raabe stellt dann „Blood & Honour“ dar. Die Organisation sei 1987 von Ian Stuart Donaldson und Nick Crane gegründet worden. Ein Hauptschwerpunkt der Band „Screwdriver“ sei in frühen Jahren Baden-Württemberg gewesen. Das zweite Konzert der Band in Deutschland habe 1991 in der Stuttgarter „Kolbstube“ statt gefunden. Raabe erläuterte die große Nähe zwischen den Bands „Screwdriver“ und „Noie Werte“. Donaldson habe Veranstaltungen des Ku Klux Klan besucht und ein Musik-Projekt mit dem Namen „Klansmen“ mit „Südstaatensound“ gehabt. Raabe erwähnte die Strukturen „Kreuzritter für Deutschland“ und „Screwdriver Service“. Die „Kreuzritter“ seien von 1991 bis 1994 aktiv gewesen und hätten Feste und Konzerte organisiert. Es sei eine der frühen gefestigten Strukturen gewesen, die aus dem Bereich der Jugendkultur entstanden und sehr eng mit „Ultima Ratio“ verbunden gewesen sei. Raabe meinte außerdem, der Name „Kreuzritter“ lege einen KKK-Bezug nahe. Raabe zeigte diverse Fotos und Dokumente von B&H. Die deutsche Division sei 1994 in Berlin gegründet worden, ab 1996 habe es die Sektionen Baden und Württemberg gegeben, 1999 seien die Sektionen Württemberg und Sachsen aus B&H ausgetreten, 2000 sei es dann zum B&H-Verbot gekommen.
Raabe zählte Bezüge von B&H nach Baden-Württemberg auf und erwähnte u.a. Markus Frntic, Hartwin K., Roland S., Alexander Heinig und die Mitglieder von „Propaganda“.
Zu „Furchtlos und Treu“ sagte Raabe, 1999 sei es zur Ausgliederung der B&H-Sektion Württemberg gekommen, die Gruppe F&T habe sich vom Namen und der Symbolik an der Waffen-SS orientiert und auch frühe Veranstaltungen zu Ehren der SS-Division Götz von Berlichingen durchgeführt. 2003 sei das Clubhaus von „Furchtlos und Treu“ abgebrannt worden und 2004 sei es zu einer polizeilichen Durchsuchung bei der sächsischen Untergliederung von F&T gekommen. Dort seien Sprengstoff und Munition gefunden worden.
Raabe erwähnte außerdem die „Division 28“ als Nachfolgestruktur von B&H.
Als NSU-Bezüge nach Baden-Württemberg nannte Raabe die Musik von „Noie Werte“ in einer frühen Version des Bekennervideos und die Kontakte der Band zu Unterstützern wie bspw. Jan W. und Konzerte von „Noie Werte“ z.B. in Chemnitz bzw. die spätere Mitgliedschaft des Chemnitzers Andreas Graupner in der Band. Raabe erwähnte danach die Bands „Höllenhunde“, „Celtic Moon“ und „Wolfsrudel“ des V-Mannes Achim Schmid. Letztere hätten zwar auf wenigen, aber auf wichtigen Konzerte gespielt, z.B. 1999 auf B&H-Konzerten in Ungarn und in Dänemark. „Da kommt nicht jede Band hin, das sind besondere Konzerte“, sagte Raabe. Schmid habe auch auf seinen Tonträgern Bezüge zum KKK gezeigt, u.a. in Liedern und durch die Verwendung von Klan-Symbolik. Zuletzt erwähnte der Sachverständige die Ludwigsburger Band „Kettenhund“ um den verstorbenen Michael E. und die engen Kontakte des „Trios“ nach Ludwigsburg. Interessant sei laut Raabe die Frage, warum es zum Austritt der B&H-Sektionen Sachsen und Württemberg und zur Gründung von „Furchtlos und Treu“ gekommen sei.
Raabe nannte dann die Zuzüge von B&H-Kadern in den Raum Ludwigsburg: Andreas Graupner, Jan W., Stephan L. alias „Pin“.
Zur allgemeinen Funktion der Musik äußerte Raabe, vor allem bei jungen Leuten sei dies ein früher Kontaktpunkt bzw. Radikalisierungspunkt. Dort würden „Stichworte gegeben“ und es gebe erste Kontaktmomente – sowohl ideologisch, aber vor allem auch einen Zugang zur organisierten Szene. Auch für Ältere sei der Bereich Rechtsrock wichtig, weil hier Netzwerke geschmiedet würden und die Beständigkeit aufrechterhalten werde. Es gehe auch um Selbstvergewisserung, auf Konzerten seien durchaus ältere Personen um die 30.
Zu Überschneidungen mit der Rocker-Szene sagte Raabe, es gebe eine hohe Überschneidung zwischen bestimmten Aspekten des Neonazismus und der Kameradschaftsszene mit Rockern und daher einen leichten Übergang. Die Rockerszene verfolge aber andere Ziele, die z.T. kontraproduktiv seien. Z.B. seien die Rocker teilweise multikulturell aufgestellt, es sei ihnen egal, wer mit ihnen Geschäfte mache. Einzelne Personen aus der Naziszene seien im Rockerbereich aktiv geworden, so Raabe. Er verwies auch auf den Zugang zu Waffen und Club-Heimen, die für Konzerte zur Verfügung gestellt worden seien. Als Beispiele erwähnte Raabe eine größere Konzertserie im „Bandidos“-Clubheim in Mannheim 2003. Die rechtsextreme Szene habe einen Mangel an verlässlichen Räumen für Konzerte, deshalb habe es bspw. 2002, 2003, 2004, 2005 und 2007 einen Rückgriff auf Rocker-Clubhäuser gegeben.
Zu den „Onkelz“ sagte Raabe auf Nachfrage, schon ab Mitte der 1980er Jahre nach rassistischen Morden in Hamburg sei eine ideologische Veränderung zu beobachten „von der extremen Rechten hin in einen diffusen Rechtspopulismus, der teilweise kompatibel war im Rückblick mit der extremen Rechten, der aber in der extremen Rechten im Kernbereich auch als Abkehr und Verrat wahrgenommen wurde“. Raabe sprach von der Kultivierung prolliger Männlichkeit und einem „Underdog-Gefühl“ durch die „Onkelz“, für die organisierte Szene habe die Band aber keine Bedeutung mehr.
Auf eine in diese Richtung weisende Frage von Wolfgang Drexler hin verneinte Raabe Verbündungsbestrebungen von Links- und Rechtsterrorismus gegen den Staat und verwies auf den Hintergrund der Punk-Musik, da Drexler ein Lied der Band „Cotzbrocken“ mit RAF-Bezug ins Spiel brachte. Das Bild der Polizei innerhalb des Rechtsrock müsse differenziert betrachtet werden, einerseits gebe es eine Staatsbejahung bzw. die Polizei werde als zu schwach wahrgenommen, andererseits diene die Polizei als Hassobjekt und als „Arm des Weltjudentums“. Raabe erwähnte ein Single-Cover der Band „AEG“, auf dem die Erschießung eines Polizeibeamten auf einem Polizeibeamten gezeigt werde.
Auf Nachfrage ging Raabe auf Flügelkämpfe innerhalb von B&H und einen Beschluss auf dem B&H-Treffen 1998 ein. Ein Flügel habe eher das „Business“ mit Konzerten und CDs im Auge gehabt, ein anderer Flügel habe die Politisierung betrieben. 1999 sei die Sektion Sachsen ausgetreten, die gerade eher geschäftstüchtig gewesen sei, aber gleichzeitig einen eher politisch-radikalen Kurs verfolgt habe. Ein Austritt der Sachsen aus geschäftlichen Gründen sei deshalb eher wenig wahrscheinlich. Zu Holger W. sagte Raabe, „Triebtäter“ seien durchaus eine wichtige Band mit Kontakten nach Chemnitz gewesen und die Band habe auch in Chemnitz gespielt. Es habe durchaus Überschneidungen zu „Noie Werte“ gegeben, bei Triebtäter sei außerdem Roland S. dabei gewesen. Holger W. sei durchaus jemand, der was Netzwerk und Musikfunktion angeht eine durchaus exponierte Bedeutung hatte. Nach dem Suizid des Sängers C. habe sich die Band „Triebtäter“ 1997 aufgelöst und die Bandmitglieder seien in anderen Projekten aktiv geworden.
Zur Frage nach möglichen NSU-Helferstrukturen erläuterte Raabe, es habe vermutlich verschiedene Ebenen gegeben. Eine Unterstützung finanzieller Art könne durch eine Organisation wie B&H erfolgt sein, bspw. durch Konzerteinnahmen. Für alles weitere gehe es vermutlich eher um persönliche Netzwerke, aber bei diesen komme man zum Gutteil doch wieder auf Organisationen, in denen sich die Personen kennengelernt und gemeinsam Erfahrungen gemacht hätten. Es gehe auch um darum, wie glaubwürdig und verlässlich Personen für die Szene gewesen seien.
In den 1990er Jahren bis ca. 2010 habe es überwiegend rechtsextreme Untergrundkonzerte gegeben. In den letzten 5-6 Jahren sei aber eine Veränderung zu beobachten, weil die Szene Zugriff auf Immobilien habe oder über eigene Immobilien verfüge und hier genehmigte Veranstaltungen durchführe. Raabe zeigte Flyer aus Thüringen, alle 3-4 Wochen finde dort ein Konzert statt, es gebe einen Kartenvorverkauf und einen geregelten Ablauf. Eine weitere Entwicklung seien Konzerte als politische Veranstaltungen, die unter dem Schutz des Versammlungsrechts stehen würden. Raabe verwies auf das öffentlich beworbene „Rock für Identität“ in Hildburghausen mit bis zu 3500 TeilnehmerInnen und auf ein Konzert am 15. Oktober 2016 mit 6 Bands, das im Raum Ulm statt finden sollte, dann aber in der Schweiz stattfand mit 5000 TeilnehmerInnen und 150.000-200.000 € Umsatz. Man habe es hier mit einer bewegungsförmigen Organisierung zu tun, nicht mit einer Organisation mit Vorsitzendem und Kassenwart. Raabe erwähnte auch, dass Straftaten innerhalb der Konzerte Gand und Gäbe seien. Die Bands hätten allerdings AnwältInnen an der Hand und würden sehr bewusste Entscheidungen treffen. Erstlingswerke seien oftmals strafrechtlich relevant, aber nur als MP3 verfügbar. In wenigen Fällen würden offensiv illegale Tonträger produziert mit Mordaufforderungen oder „Sieg Heil-Parolen“.
Zur Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien äußerte Raabe, diese werde auf Antrag tätig und klassifiziere Musik. Es gebe in den letzten Jahren eine zunehmende Antragsstellung aus dem Bereich der Landeskriminalämter, die bei Razzien CDs beschlagnahmen und analysieren würden. Eine regelmäßige zeitnahe Sichtung und Beurteilung von Tonträgern gebe es seiner Meinung nach aber nicht. Die Bundesprüfstelle würde momentan „durchaus erfolgreich, allerdings in einer Vielzahl der Fälle zu spät“ agieren.
Raabe äußerte sich zur Band „Gigi und die braunen Stadtmusikanten“, die das „Dönerkiller“-Lied veröffentlichten. Neben der Wahrnehmung der Morde in den migrantischen Communities könnte es auch zur Wahrnehmung in der Nazi-Szene gekommen sein. Es könnte auch das Wissen über die Taten weitergegeben worden sein. Außerdem sei auch der Zeitpunkt des Liedes „durchaus verblüffend“, der Text offenbare aber nichts, was Täterwissen deutlich mache. Der Autor des Liedes sei der Betreiber des B&H-Labels „Nibelungenversand“ und Daniel „Gigi“ G. eine bundesweit präsente Person.
Auf Fragen nach einer wirkungsvollen Prävention erläuterte Raabe, überall dort wo es lebendige demokratische jugendkulturelle Strukturen gebe, falle es der extremen Rechten und ihren Bands schwer. Eine ausstiegsorientierte Arbeit oder die Arbeit mit Anhängern der Szene sei nur in Einzelfällen gewinnbringend. Er würde eher für eine gut finanzierte pädagogische Jugendarbeit plädieren, die sich an demokratischen Prinzipien orientiere.
Auf die Frage nach der möglichen Rechtsextremismus-Ursache Jugendarbeitslosigkeit entgegnete Raabe, laut Studien sei Arbeitslosigkeit durchaus ein Faktor, aber kein signifikanter. Rechte Einstellungspotentiale seien laut diesen Studien vor allem bei Personen ab 50 zu finden. Für Baden-Württemberg verwies Raabe auf die Bands „Noie Werte“ und „Ultima Ratio“ mit Anwälten als Sängern. Man habe es hier keinesfalls mit Arbeitslosigkeit zu tun, eher seien im Publikum Personen, die auch arbeitslos seien, auf der Bühne stünden aber Personen, die Facharbeiter oder höher seien.
Bezüglich des V-Leute-Systems äußerte Raabe, rückblickend auf 20-30 Jahre Rechtsrock lasse sich sagen, dass beim Verfassungsschutz kein Mangel an Informationen geherrscht habe. In allen großen und wichtigen Bereichen der Szene sei der Verfassungsschutz mit V-Leuten vertreten gewesen. Verhindert habe das nichts und das habe auch nichts zur Einschätzung der Gefahr beigetragen. Zum Instrument der verdeckten Ermittler sagte der Sachverständige, er könne sich nicht vorstellen, dass man einem verdeckten Ermittler ein jahrelanges Leben in der Szene zumuten könne.
Zum nichtveröffentlichten Bekennervideo mit den „Noie Werte“-Liedern sagte Raabe, dies sei bemerkenswert, er habe aber keine Erkenntnisse, warum diese Lieder gewählt wurden und alles weitere wäre Spekulation. Zur Verbindung von „Noie Werte“ und der NPD erwähnte Raabe das ehemalige Bandmitglied Michael Wendland, insgesamt sei das Verhältnis der NPD zu dieser Szene aber sowohl von Nähe als auch von Skepsis getragen. Anfangs habe sich die NPD abgegrenzt, dann aber das Potential an AktivistInnen und WählerInnen erkannt. Raabe erwähnte die „Schulhof“-CDs und NPD-orientierte Musikfestivals und sprach diesbezüglich von einem „zweckmäßigen Miteinander“.
Zum „Ballungsraum“ der Szene in Ludwigsburg, erläuterte Raabe, es sei eine der wichtigen Fragen, wie es dazu komme, dass die einzelnen Personen ab einem bestimmtem Zeitpunkt im Raum Ludwigsburg zu finden gewesen seien. Er könne diese Frage nicht beantworten. Bezüglich des „Bayernkeller“ in Heilbronn zitierte Raabe aus dem „United Skins“-Zine Nr. 5 von Carsten S. alias V-Mann „Piatto“, in dem „Triebtäter und Simone“ über den „Keller“ in Heilbronn schrieben.
Der letzte öffentlich vernommene Zeuge des Tages war der 37-jährige Fritz G., ein ehemaliges Mitglied der islamistischen „Sauerland“-Gruppe. Hintergrund der Vernehmung war ein Artikel des „Stern“, der einen Zusammenhang zwischen dem Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn, der eventuellen Anwesenheit von Geheimdiensten am Tatort und dem Komplex „islamistischer Terrorismus“ nahe legte. Dabei bezog sich der „Stern“ u.a. auf das angebliche Protokoll eines US-amerikanischen Geheimdienstes, laut dem eine Observation des Islamisten Mevlüt K. in Heilbronn abgebrochen worden sein soll, als es zum einem „Zwischenfall mit Schusswaffen“ auf der Theresienwiese gekommen sei. Die Vernehmung von G., der von einem Rechtsanwalt begleitet wurde, führte allerdings zu keinen neuen Erkenntnissen. G. äußerte, seines Wissens sei Mevlüt K. am Tattag nicht in Heilbronn gewesen. Eine Verbindung zwischen der „Sauerland“-Gruppe und dem Mord in Heilbronn verneinte er. Auch der Name Jamil C. würde ihm nichts sagen. Fritz G. erklärte außerdem, der laut eines Abhörprotokolls von ihm am Tag des Mordes in Heilbronn geäußerte Satz „Dann muss ich beide erschießen, beide Bullen“ habe sich nicht auf die Tat auf der Theresienwiese bezogen. Vielmehr habe sich der Kommentar auf einen älteren Bericht in den Medien bezogen, den G. vor längerer Zeit gesehen habe. Als er im Auto von der Tat in Heilbronn erfahren habe, habe ihn das an diesen älteren Medienbericht erinnert.
In der folgenden Presserunde erklärten die Vertreter des Untersuchungsausschusses weitgehend einhellig, dass bisher keinerlei Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen der „Sauerland“-Gruppe und dem Mord in Heilbronn vorliegen würden. Einzelne Abgeordnete gingen in ihrer Einschätzung deutlich weiter. So äußerte zum Beispiel der SPD-Vertreter Boris Weirauch, diese These könne nach der Zeugeneinvernahme „zu den Akten gelegt werden“. Laut dem FDP-Abgeordneten Nico Weinmann werde „sukzessive die faktische Grundlage des Stern-Artikels entzogen“. Allerdings vernahm der Ausschuss anschließend in einer nichtöffentlichen Sitzung der BND-Regierungsinspektorin Ingrid C., um weitere Erkenntnisse zu einer eventuellen Anwesenheit US-amerikanischer (Geheim-)Dienste auf der Theresienwiese zu erlangen. Nach dieser nichtöffentlichen Vernehmung kündigte der Ausschuss-Vorsitzende Wolfgang Drexler an, man werde zur Klärung weitere Zeugen laden müssen.